Die “Spielregeln” der Gemeinsamen Mittelvergabe

Die Gemeinsame Mittelvergabe ist ein Instrument zur Vergabe von Fördermitteln
Der Grundgedanke dabei ist es, die Antragstellenden selbst zu ermächtigen über die vorhandenen Mittel zu entscheiden, um die allzu oft intransparenten Entscheidungen von sogenannten “Experten-Jurys” oder anderen Gremien durch eine selbstbestimmte, partizipatorische und demokratische Praxis der Mittelvergabe zu ersetzen. Erst wenn die Antragstellenden in ihrer Profession als Künstler_innen ernst genommen, also selbst als Expert_innen in ihrem Feld wahrgenommen werden, können auch selbstbestimmte und transparente Entscheidungen über die Verteilung von Fördermitteln gefällt werden.

Die Gemeinsame Mittelvergabe funktioniert als offener Aushandlungsprozess,
in dem die schiere Konkurrenzsituation von Projekten, die sich bei dem gleichen Fördertopf bewerben, durch solidarisches Miteinander relativiert werden kann. Im direkten Gespräch miteinander können nicht nur hilfreiche Tipps gegeben, vor Fehlkalkulationen oder Selbstausbeutung gewarnt werden, sondern auch darüber nachgedacht und verhandelt werden, welche Projekte sich evtl. kombinieren lassen und eine Zusammenarbeit ermöglichen (was wiederum Arbeitsaufwand und Materialkosten reduzieren kann). Einzelheiten des Vorhabens können erläutert und auf Nachfragen direkt reagiert werden, um Missverständnisse oder Unklarheiten aus dem Weg zu schaffen. Durch den direkten Austausch ist es auch möglich vorhandene Produktionsmittel zu teilen und Anschaffungskosten zu reduzieren, wenn z.B. für Projekt Z bestimmte Materialien benötigt werden, die woanders bereits vorhanden und nutzbar oder ausleihbar sind. So lassen sich auch Kosten- und Finanzierungspläne noch spontan den realen Gegebenheiten anpassen, was sich durchaus positiv auf die Entscheidung zur Förderung auswirken kann.

Der Ablauf einer Gemeinsamen Mittelvergabe kann etwa so aussehen:
Die Projektideen werden allen Anwesenden vorher zugänglich gemacht, genau wie in jedem anderen Juryverfahren auch. Die Vorstellung der Projekte aller Teilnehmer_innen ermöglicht direkte Nachfragen zum besseren Verständnis des Vorhabens. Auch können eventuelle (inhaltliche, methodische etc.) Überschneidungen festgestellt und über mögliche Zusammenarbeiten nachgedacht werden. Die Bedarfe an Produktionsmitteln werden spätestens bei der nun folgenden Vorstellung und Zusammentragung der jeweiligen Kostenpläne ersichtlich. Hierbei soll untereinander darauf geachtet werden, dass sich keine offensichtlichen Fehlstellen, unnötigen Mehrkosten oder vorprogrammierte Selbstausbeutung in die Kalkulationen eingeschlichen haben.

Als nächstes soll ein offener Austausch über die Projekte stattfinden, wobei nicht aktiv für den eigenen Antrag argumentiert werden darf, sondern nur für Vorhaben der anderen.

Sind alle Fragen geklärt, Möglichkeiten und Probleme diskutiert sowie die Kostenpläne angepasst, können die einzelnen Projektvorhaben nun priorisiert werden, indem jede_r Beteiligte in einer geheimen Abstimmung jedem Antrag 0 bis 4 Punkte vergibt. (0=Ablehnung, 1=eher nein, 2=neutral, 3=eher ja, 4=volle Zustimmung) So entsteht nach Auszählung der Stimmen und Punkte eine gewichtete Liste, nach der die vorhandenen Projektmittel von oben (meiste Punktzahl) nach unten (niedrigste Punktzahl) verteilt werden, bis sie ausgeschöpft sind. Die Anträge, die bis zu diesem Punkt nicht bedacht werden konnten, also weiter unten in der Liste stehen, gelten als abgelehnt.

Zusammengefasst:

  1. Vorstellung der Projektideen & direkte Nachfragen (ca. 5 Minuten Projektvorstellung, ca. 5 Minuten Nachfragen).
  2. Vorstellung der finanziellen Bedarfe
  3. Offene Diskussion über die Projekte, Parteinahme für die einzelnen Projekte der anderen Teilnehmer_innen (NICHT für das eigene Projekt sprechen)
  4. Solidarische Beratung der Finanzmittel (reicht das Honorar, was geht preiswerter, welche Kosten wurden nicht bedacht, etc.?
  5. Austausch über Zusammenlegung und/oder Leihgaben (Welche Projekte können fusionieren? Was ist woanders vorhanden und spart Ausgaben? etc.)
  6. Evtl. Anpassung der Finanzpläne aufgrund von Einsparmöglichkeiten, resultierend aus Punkt 4. Und 5.(evtl. anhand eines vorher festgelegten Höchstwerts der Kürzungen in Prozent, z.B. 10%) ACHTUNG: Es ist darauf zu achten das „Gießkannenprinzip“ zu vermeiden. Selbstausbeutung soll kein Ergebnis der Mittelvergabe sein.
  7. Votierung (Priorisierung durch Punktevergabe)
  8. Offene Bekanntmachung der Ergebnisse und Raum für Diskussion und Austausch

Voraussetzungen
Voraussetzungen für eine solche Gemeinsame Mittelvergabe sind die Bereitschaft zur selbstkritischen Auseinandersetzung der Antragstellenden sowie eine neutrale Moderation, die ein solidarisches Miteinander fokussiert und insbesondere im offenen Austausch darauf achtet, dass keine dominanten Sprecher_innen das Geschehen beeinflussen oder den eigenen Antrag hervorheben. Je nach Förderung/Ausschreibung sind auch bestimmte Schwerpunkte, wie etwa Thematik, Diversität der Künstler_innen, Unterschiedlichkeit/Vielfalt der Projekte, Kooperation, Methodik oder Genre denkbar, die von der Moderation in die Diskussion eingebracht werden müssen.

Auch denkbar, aber umstritten ist die Berücksichtigung individueller Lebens- und Bedarfslagen. Hierbei könnte die Abfrage und Gewichtung des ökonomischen Backgrounds (z.B. prekäre Beschäftigung/Festanstellung, Armutsgrenze, Miete/Eigentum etc.), des Familienstatus (ledig/verheiratet, (keine) Kinder/ alleinerziehend) oder auch weiterer diverser Faktoren eine Rolle spielen.

Außerdem sollte ein grundlegendes Prinzip sein, den Aufwand der Antragstellung und Mittelvergabe entsprechend wertzuschätzen und mit mindestens 10,- € pro Stunde zu entlohnen.

Auch beim Auftaktkongress haben sich fast alle über 10€ Stundenlohn gefreut.

Was ist besonders positiv an der Gemeinsamen Mittelvergabe?
Die antragstellenden Künstler_innen sind gleichberechtigt in den Prozess der Mittelvergabe eingebunden. Es gibt keine anonyme Jury, die Entscheidungen über Künstler_innen trifft; die Künstler_innen werden in diesem Prozess dazu selbst ermächtigt, gemeinsam zu entscheiden wofür die Fördermittel vergeben werden. Der gesamte Ablauf der Vergabe, die zur Verfügung stehenden Finanzmittel und die Entscheidung für oder gegen ein Projekt sind für alle Beteiligten komplett transparent. Durch das gegenseitige Kennenlernen können nicht nur spontane Kooperationen und Produktionsmittelaustausche stattfinden, sondern auch langfristig Gemeinschaften, ein solidarisches Wir, das der Vereinzelung gegenübersteht, entstehen. Die Gemeinsame Mittelvergabe ermöglicht auch, dass sich die Szene Kunst- und Kulturschaffender in einem herrschaftsarmen Raum begegnen können, die Szene für einander sichtbar wird – möglichst unmaskiert und unhierarchisch.

Der Problematik, dass einige sehr gute Antragstexte verfassen, andere dagegen ihr Vorhaben besser mündlich präsentieren können, wird Rechnung getragen, indem hier beide Formen bedacht sind. Außerdem soll es immer möglich sein das eigene Vorhaben in Vertretung vorstellen zu lassen; sei es aufgrund von sprachlichen Hindernissen, sozialen Hemmungen oder weil Antragstellende es nicht zum Termin der Gemeinsamen Mittelvergabe schaffen.

Kritik an der Gemeinsamen Mittelvergabe
Wir begreifen die Methodik der Gemeinsamen Mittelvergabe nicht als fertiges Instrument, sondern als eine solidarische Praxis, die sich auf Grundlage der gemachten Erfahrungen ständig weiter entwickeln soll. Denn trotz vieler positiver Punkte und Effekte bleibt auch berechtigte wie notwendige Kritik am Konzept der Gemeinsamen Mittelvergabe. Es liegt an uns und Euch, die Methodik auf Grundlage der Kritik zukünftig weiter zu verbessern.

Die Gemeinsame Mittelvergabe ist sehr zeitintensiv, daher MUSS eine Entschädigung des Aufwands gewährleistet sein. Aber selbst dann kann diese Methode noch immer als zusätzliche Belastung für die Antragstellenden wahrgenommen werden, da sie neben der Vermittlung der eigenen Arbeit eine zusätzliche Verantwortung für die Beurteilung der Mitbewerber_innen zugesprochen bekommen. Die Freiheit, welche im selbstermächtigenden Moment liegt, kann auf unerfahrenere Teilnehmer_innen überfordernd wirken. Wir wünschen uns, dass das nicht den einen zum Nachteil und damit den anderen zum Vorteil wird (Konkurrenzlogik), sondern dass hier Solidarität durch Parteinahme und Unterstützung für einander greift.

Es besteht die Gefahr der vorauseilenden Selbstkürzung, um ein Projekt unter der Hinnahme von Selbstausbeutung gefördert zu bekommen. Hier muss die Gemeinschaft (oder wenigstens die Moderation) solidarisch intervenieren.

Die offene Teilhabe kann sich in offene Abwertung umkehren, mit der die Betroffenen umgehen können müssen, denn die Ergebnisse der Punktevergabe werden offen gezeigt (Transparenz). Beispielsweise wenn nach der Wertung der Projekte offenbar wird, dass das eigene Projekt von den anderen Anwesenden niedrig gewertet worden ist (aus welchen Gründen auch immer). Auch muss in Frage gestellt werden, ob die offene Diskussion zusammen mit der anonymen Wertung ausreichen, um den abgelehnten Projekten ein angemessenes Feedback zu geben.

Trotz nicht auflösbarer Widersprüche, die der Realität geschuldet sind, wie etwa das Problem, dass größeren Bedarfen zu wenige Mittel gegenüberstehen werden oder dass sich am Ende des Prozesses die Teilnehmer_innen durch Punktvergabe bewerten (und damit zwangsläufig Ausschluss reproduziert wird), bleibt festzuhalten: Die Gemeinsame Mittelvergabe ist keine neoliberale Arena sondern eine solidarische, soziale Praxis, die Konkurrenz und die aus ihr resultierende Vereinzelung versucht so weit wie möglich zu umgehen. Die Idee der Gemeinsamen Mittelvergabe ist es sich zu verbinden und Sichtbarkeiten zu erzeugen. Für Bedarfe, Ideen und andere Menschen. Hier können sich Künstler_innen begegnen, kennenlernen, Kooperationen beginnen, Kontakte knüpfen und sich unterstützen.

Die Gemeinsame Mittelvergabe hat eine performative Dimension,
da sie eine Situation realisiert, die unmittelbar Einfluss auf die soziale Realität ihrer Teilnehmer_innen haben kann. Die Sätze die hier gesprochen werden sind wirklichkeitskonstituierend. Einerseits in ihrer sozialen Dimension, die ausdrücklich solidarisch sein sollte und an der jede_r Teilnehmer_in ihren Anteil hat und dadurch im Umkehrschluss mitverantwortlich ist, andererseits durch unser Eingelassen sein in unsere kapitalistische Realität. Bei der Gemeinsamen Mittelvergabe wird versucht zu dem bestmöglichen Ergebnis zu kommen, dass möglich ist, wenn unter kapitalistischen Verhältnissen versucht wird Geld fair zu verteilen. Welche Funktion Geld in diesen Verhältnissen übernimmt soll nicht vergessen und ideologisch affirmiert, sondern kritisch vergegenwärtigt werden: Es regelt unsere Beziehungen, hierarchisiert sie, erzeugt (weniger) Ein- und (wesentlich mehr) Ausschlüsse. Die Mittelvergabe ist der anspruchsvolle Versuch diese Verhältnisse temporär zu umgehen, bei gleichzeitiger Auseinandersetzung mit der Position der Teilnehmer_innen in ihnen.

Die Gemeinsame Mittelvergabe will existierende Ausschlüsse sichtbar machen und inklusiv wirken.
Räume sind Orte, die sozial gemacht sind. Wir tragen die Verantwortung für die Räume, die wir an den uns zugänglichen Orten gestalten können. Wir finden es deshalb wichtig auf die Raumgestaltung bei der Mittelvergabe zu achten. Der Raum, wie die Leute in ihm positioniert sind, wie sie sitzen oder stehen, wie sie dort miteinander sprechen, ist deswegen für die Situation der Mittelvergabe wichtig. Im Idealfall ist die Versammlung so organisiert, die Anordnung der Teilnehmer_innen im Raum so angelegt, dass ein Bewusstsein für Verhältnisse und Hierarchien von Ein- und Ausschlüssen möglich wird. Der Raum der Mittelvergabe funktioniert in seinen Linien und Anordnungen idealerweise gleichberechtigt und inklusiv.
Am Ende lösen sich die gesellschaftlichen Widersprüche und sogenannten „Sachzwänge“ nicht auf – aber sie können im Vorgang der Gemeinsamen Mittelvergabe sichtbar gemacht werden und wir können gemeinsam mit ihnen umgehen.

bld / jons schüttler / bld-slp.net

Die Gemeinsamen Mittelvergabe bedeutet also…

  • Ein offener Aushandlungsprozess statt „Experten“-Jury-Entscheidung
  • Dass die Antragstellenden selbst die Expert_innen sind, die die Fördermittel vergeben. Die Entscheidungen sind daher selbstbestimmt, transparent und eine große gemeinsame, solidarische Verantwortung.
  • Dass das Land ihren Künstler_innen vertraut und die Verteilung von Fördermitteln in Konsequenz durch die Methode der Gemeinsamen Mittelvergabe anvertraut.
  • Solidarität und Unterbrechung statt Ellbogen und immer so weiter machen.

Am 18.11.2017 wurde eine große Gemeinsame Mittelvergabe im Rahmen von “Wem gehört die Kunst?” im Autonomen Zentrum Mülheim durchgeführt. Insgesamt konnten 35.000,- € an 10 Projektvorhaben vergeben werden. Diese Mittelvergabe wurde von Farina Nagel (Transfer für Bildung e.V.) wissenschaftlich evaluiert.

Die Evaluation ist hier zu finden.